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14.01.2025_Almost Natural

Sebastian Gille (Saxophon)
Elias Stemeseder (Klavier, Synthesizer)
Leif Berger (Schlagzeug)
Florian Herzog (Kontrabass)

Ein Irrgarten ist ein Ort, an dem man sich verliert, ein Labyrinth hingegen ein Platz, an dem man sich findet. Der Kölner Bassist Florian Herzog durchbricht auf seinem Album „Almost Natural“ die schmale Trennwand zwischen Labyrinth und Irrgarten und schafft ein Refugium, an dem sich nicht nur er und seine Mitmusiker, sondern auch die Hörerinnen und Hörer der Platte gleichzeitig finden und verlieren können.

Grundsätzlich lebt „Almost Natural“ von brillant ausbalancierten Gegensätzen. Das Hyperaktive begegnet dem Entspannten, das Verbindliche dem Unverbindlichen, das Synthetische dem Organischen, das Abstrakte dem Zugänglichen, das in sich Gebrochene dem kontinuierlich Fließenden, das Groovige dem Avantgardistischen. Herzog lotet alle Ecken und Winkel seiner musikalischen Persönlichkeit aus, ohne jemals das Epizentrum aus dem Blick zu verlieren. Er scheut sich nicht vor Extremen, die sich aber immer über das gemeinsame Zentrum definieren. „Wenn ich schreibe, setze ich immer auf diese Kontraste“, hält der Bassist fest. „Die freie Improvisation ist mir ungeheuer wichtig. Bei aller Abstraktion suche ich aber auch stets nach einem Kern, der die Musik zugänglich macht. Das kann eine Melodie oder ein Groove sein, der ein Kopfnicken auslöst, auch wenn man bei Hören vielleicht gar nicht hundertprozentig nachvollziehen muss, was da wirklich passiert. Bei der Setlist des Albums genauso wie beim Ablauf eines Live-Konzerts weiß ich, dass man nach fünf Minuten Chaos erstmal wieder ein paar Melodien oder Akkorde zum Entspannen braucht. Im Großen wie im Kleinen.“

Mit voller Absicht führt Herzog das Ohr schon in den ersten beiden Tracks in die Irre. Der Opener „Listening Integrity“ ist ein Feuerwerk an Abstraktion und Wildheit, während der zweite Song „Advanced Computer Music“ sanft an die Klangästhetik von Fusion Jazz erinnert, ohne es an struktureller Komplexität mangeln zu lassen. Auch in der Folge macht Herzog äußerst vielfältige Angebote, als würde man über einen Archipel von Inseln mit ganz verschiedenen klimatischen Bedingungen, geologischen Formationen und Besiedlungsdichten fliegen. Und doch gehören all diese Eilande zu ein und derselben Inselgruppe. Herzog hat diese beiden Songs, die gegensätzlicher kaum sein könnten, bewusst an den Anfang des Albums gesetzt, um nicht nur das Spektrum der Songs abzustecken, sondern durch den positiven Schock des ästhetischen Systemwechsels beim Hören auch einen Höchstgrad an Aufmerksamkeit zu generieren.

Vieles klingt hier nach im ersten Augenblick Free Jazz, doch Herzog behält viel zu viel Kontrolle über den musikalischen Gesamtprozess, als dass es wirklich genuiner Free Jazz wäre. Mit seinen Kollegen Elias Stemeseder an Klavier und Synthesizer, Sebastian Gille am Saxofon und Leif Berger am Schlagzeug hat der Bassist drei Mitstreiter, mit denen er nicht nur jeden erdenklichen Spielgrund ausschreiten kann, sondern die sich auch – um beim oben genannten Bild zu bleiben – in jeder Situation individuell und kollektiv komplett verlieren können, um sich genauso schnell und intuitiv wiederzufinden. Womit ein weiterer sich bedingender Gegensatz gefunden wäre: der permanente Dualismus zwischen Festhalten und Loslassen.

Mit seinen drei Mitspielern verbindet Herzog eine Symbiose, die sich am besten mit dem Albumtitel almost natural beschreiben lässt. In blindem Einverständnis preschen sie gemeinsam los, fangen sich gegenseitig auf, durchdringen einander, grenzen sich zuweilen auch voneinander ab, um die miteinander geschaffenen Demarkationslinien sogleich wieder aufzulösen. Im kollektiven Spiel verlagert sich das Impulszentrum unentwegt. Am längsten kennt Florian Herzog Drummer Leif Berger. Die beiden Kölner bilden seit ungefähr zehn Jahren in den unterschiedlichsten Formationen eine stabile Rhythmuseinheit. Herzog betont, dass sie in diesem Zeitraum nebeneinander und miteinander gewachsen sind, ohne dass Einer von beiden je in einer Band des jeweils Anderen gespielt hätte. Mit „Almost Natural“ geht somit ein lange gehegter Wunsch in Erfüllung. Den österreichischen Tastenmann Elias Stemeseder lernte Herzog in New York kennen. Die beiden Musiker waren Nachbarn und ließen keine Gelegenheit aus, miteinander zu spielen. Wie Berger zeichnet sich auch Stemeseder durch eine schier grenzenlose intuitive Flexibilität aus, die ihn nicht nur spontan auf jeden Kontext reagieren, sondern auch stets in Vorleistung gehen und gestalten lässt. Seine Sounds sind speziell auf dem Synthesizer, den er im Ursprung des Wortes zur expliziten Klang-Synthese benutzt, nicht zuletzt das Bindemittel, das die Intentionen der drei Anderen zusammenhält. Die Partnerschaft mit dem für seine Husarenritte bekannten Saxofonisten Sebastian Gille verdichtete sich während der Corona-Zeit. Man traf sich regelmäßig gemeinsam mit Leif Berger und begann die Grundlage für die Stücke zu legen, die jetzt auf „Almost Natural“ vollendet wurden. Herzog selbst agiert hier nicht nur als Bassist und Komponist, sondern auch als Post Producer, der nach den Echtzeit- Sessions mit viel Fingerspitzengefühl Hand anlegte und den Songs ihren endgültigen Schliff verlieh.

In den speziellen Qualitäten dieser Besetzung bringt Florian Herzog den Mut zu einer Entscheidung auf, die man im Jazz ebenso selten antrifft wie in allen anderen Musikrichtungen. Das Quartett definiert sich weniger über seine gemeinsame Schnittmenge als über die individuellen Gegensätze seiner Mitspieler. Daraus resultiert eine geradezu explosive Spannung, ganz egal, ob es sich um die dynamischeren Parts oder die ruhigeren Phasen handelt. Aus der Unterschiedlichkeit der jeweiligen Positionen heraus können sich die vier Musiker in jedem Stück neu begegnen. Die Interferenzen des Zugangs und der Auffassungen ermöglichen einen Mehrwert, der weit über das von der Besetzung Saxofon-Tasten- Bass-Schlagzeug Erwartbare hinausgeht. Die übliche Rollenverteilung wird konsequent aufgebrochen und die Anteile neu und stets überraschend montiert.

Die Dramaturgie von „Almost Natural“ lässt sich am besten mit dem Songtitel „Misleading Energy“ beschreiben. Es ist wie ein aktiver Vulkan, dessen Kamine hier und da aufbrechen und kochende Lava in die Umgebung spucken, auf dessen fruchtbaren Hängen es aber ansonsten grünt und blüht. Zuverlässige Unvorhersehbarkeit – das ist es, was dieses Album vor allem anderen auszeichnet.

Foto © Patrick Essex

www.florianherzog.info